Zwei kleine Jungen und nur eine Schaukel. Ein Streit liegt in der Luft. "Ich will zuerst." "Nein, ich." Kaum hat einer die Schaukel erklommen, befördert ihn der andere unsanft herunter. Eine banale, alltägliche Geschichte. Gleichzeitig eine Geschichte, die in ihrem Kern viel älter ist als die Menschheit. Denn überall, wo Lebewesen in sozialen Gruppen leben, prallen ihre unterschiedlichen Interessen aufeinander - egal ob es sich bei den Streithähnen um Menschen, Affen oder Fische handelt.
Während lange Zeit Aggression, Konkurrenz und Krieg im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses von Verhaltensforschern standen, haben sie sich in den letzten 20 Jahren immer stärker der Kooperation, dem Frieden und der Versöhnung zugewandt. So lautet das Thema der diesjährigen Europäischen Konferenz für Verhaltensbiologie, auf der sich rund 400 Wissenschaftler in Münster trafen. "Konflikt und Konfliktbearbeitung". Versöhnung entdecken die Verhaltensforscher immer dann, wenn Auseinandersetzungen die weitere Kooperation zwischen Sozialpartnern bedrohen. Weil beispielsweise der kleine Junge auch weiterhin mit seinem Freund spielen will, umarmt er ihn schließlich zur Versöhnung, nachdem er ihn von der Schaukel geschubst hat.
Bei Tieren geht es in der Regel nicht ums Spielen sondern ums Überleben. Fische können sich zwar nicht umarmen, doch auch bei ihnen sind Wissenschaftler jüngst auf versöhnliche Verhaltensweisen gestoßen. Putzerfische ernähren sich von Parasiten, die sich auf der Haut anderer Fische sitzen. Daneben beißen sie aber auch manchmal zu, um etwas Schleim von der Haut ihres "Kunden" zu fressen. Damit der gebissene Fisch nicht einfach wegschwimmt und beim nächsten Mal eine andere Putzerstation aufsucht oder den Beißer jagt, hat der Putzerfisch eine Art Entschuldigung entwickelt: Er streichelt den Rücken des Kunden mit Brust- und Bauchflosse. In 90 Prozent der Fälle hält der Kunde dann wieder still und die Putzaktion kann weitergehen. Das eine Berührung einen Fisch besänftigen kann, erstaunt die Forscher nicht: "Alle Wirbeltiere mögen es, gestreichelt zu werden. Es scheint eine Eigenschaft unseres Nervensystems zu sein", erklärt Redouan Bshary von der University of Cambridge, der das Versöhnungsritual der Putzerfische entdeckt hat. "Ob die Massagen dem Kunden darüber hinaus Vorteile bringen, wie etwa den Abbau von Stresshormonen, wissen wir noch nicht."
Am besten ist Konfliktbearbeitung bisher bei Menschenaffen untersucht worden. Viele ihrer Versöhnungsrituale sind uns Menschen sehr vertraut, schließlich benutzen wir sie selbst. Schimpansen strecken beispielweise die Hand nach dem Widersacher aus, umarmen oder küssen einander nach einem Streit. Ein anderer wichtiger Faktor zur Stabilisierung der Gruppe: Der Sieger eines Affenstreits grenzt den Unterlegenen nicht weiter aus, sondern holt im Gegenteil den Außenseiter zurück in die Affenhorde. Der Verhaltensbiologe Frans de Waal von der Emory University in Atlanta hat viele Jahre die Frieden stiftenden Maßnahmen bei Affen studiert. Einmal beobachtete er, wie während eines Streits ein Schimpanse dem anderen in den Zeh biss. Nach einiger Zeit kehrte der Wüterich zu seinem "Opfer" zurück und leckte ihm vorsichtig das Blut ab.
Offenbar gibt es keine starren Regeln für Versöhnung. Anders als die aggressiven Schimpansen setzen die feingliedrigeren und friedlicheren Bonobos zusätzlich zu ihren Versöhnungsgesten oft schon im Vorfeld auf ein beschwichtigendes Mittel - den Sex. Der Menschen, der sich zuweilen nach Auseinandersetzungen auch per Sex versöhnt, steht in seinen Bemühungen um Frieden irgendwo zwischen Schimpansen und Bonobos. "Wir sind eine gewaltbereite Art, aber gleichzeitig auch eine extrem kooperative", erläutert Frans de Waal. "Nur weil wir Meister der Versöhnung sind, können Millionen Menschen auf engem Raum leben. Keine Affenart wäre dazu in der Lage", sagt de Waal.
Doch nicht nur angesichts von weltweit herrschenden Konflikten stellt sich die Frage, wieso es vielen Menschen schwer fällt, Frieden stiftendes Verhalten an den Tag zu legen. Forscher vermuten, dass bei der Entschuldigung die Angst vor Machtverlust eine Rolle spielt "Eine Entschuldigung ist mehr als nur Versöhnung", meint de Waal, "es ist eine zeitweilige Unterwerfung und diese Geste der Unterwerfung ist schwierig für jemanden, der sich dem anderen gegenüber gleichberechtigt oder sogar dominant fühlt." Wichtigster Grund für einen friedlichen Umgang ist aber immer die gegenseitige Abhängigkeit. Das gilt nicht nur für direkte zwischenmenschliche Beziehungen. Als Beispiel führt de Waal die Europäische Union an: Die ökonomische und politische Kooperation verschiedener Nationen verhindert heute solche Konflikte, wie sie jahrhundertelang herrschten. "Unter diesen Bedingungen wird Frieden gegenüber Konflikten bevorzugt." Versöhnung hat also nach Meinung der Forscher vor allem pragmatische Ursachen: Es gibt sie nicht etwa, weil Lebewesen die Harmonie lieben, sondern weil sie einander brauchen.
(erschienen in "Financial Times Deutschalnd")