Hamburg. Jahr für Jahr setzen in Deutschland etwa 11.000 Menschen ihrem Leben selbst ein Ende – das sind mehr, als durch Verkehrsunfällen umkommen. Die wenigsten Suizidfälle haben die Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Hessen und das Saarland zu verzeichnen. Traurige Spitzenreiter sind derzeit Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen, wo sich gerade am Wochenende drei Jugendliche von einer 78 Meter hohen Brücke in den Tod gestürzt haben. Seit Jahrzehnten schon sind die Selbstmordzahlen in den drei Bundesländern besonders hoch.
Unverändert geblieben ist auch, dass Männer häufiger Selbstmord verüben, als Frauen und jüngere Menschen häufiger als alte. „Suizid hat es zu allen Zeiten und in allen Kulturen gegeben“, weiß Paul Götze, Leiter des Hamburger Therapiezentrums für Suizidgefährdete. „Doch obwohl Suizid offenbar in der Natur des Menschen liegt, ist er noch immer ein Tabuthema.
Fast jeder hat wohl im Laufe seines Lebens schon mal an Selbstmord gedacht. Doch nur wenige setzen solche Gedanken auch in die Tat um. Viele der Selbstmordgefährdeten leiden unter einer psychischen Krankheit wie Depression, Schizophrenie aber auch Drogensucht oder sie neigen zumindest dazu, sagt Götze. Äußere Ereignisse, wie der Tod eines Nahestehenden, Beziehungskonflikte oder berufliche Probleme sind schließlich nur Auslöser für die Tat.
Was medizinisch hinter dieser Neigung zum Selbstmord, der Suizidalität steckt, erforscht Thomas Bronisch vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, der eng mit den Hamburger Therapeuten zusammenarbeitet. Familienuntersuchungen und Zwillingsstudien haben gezeigt, dass es eine erbliche Komponente gibt. Ein Selbstmordgen existiert aber ganz sicher nicht, denn das komplizierte System, dass unsere Psyche steuert, besteht aus sehr viel en Teilen“, betont Bronisch.
Untersuchungen der Rückenmarksflüssigkeit von Suizidopfern haben ergeben, dass ein Zusammenhang zwischen dem Mangel an Serotonin, einem Botenstoff im Nervensystem, und der Selbstmordneigung besteht. Serotonin beeinflusst die Kontrolle von Impulsen, das allgemeine Wohlbefinden und es spielt eine Rolle bei positiven sozialen Kontakten.
Jeder Mensch trägt die Neigung zu aggressivem Verhalten in sich, das sowohl gegen die Umwelt als auch gegen sich selbst gerichtet sein kann. Verringert sich nun durch zu wenig Serotonin die Impulskontrolle, so die Theorie, kann der Betroffene autoagressive Ambitionen in bestimmten Situationen nicht mehr kontrollieren. Ihm fehlt die schützende Mauer, die andere Menschen davon abhält, Selbstmordgedanken umzusetzen.
Die Wissenschaftler hoffen, eines Tages über den Serotoningehalt im Blut von Patienten auf deren Selbstmordneigung schließen zu können. Darüber hinaus wäre ein Multi-Gen-Test denkbar, um Gefährdete rechtzeitig zu erkennen. Allerdings müssten dazu erst einmal die beteiligten Gene aufgespürt werden.
Auch das Regulationssystem für Stress scheint bei Selbstmordkandidaten beeinträchtigt zu sein. Schon bei geringem Stress schütten selbstmordgefährdete Menschen große Mengen an Stresshormonen aus. Stress- und Impulskontrolle stehen miteinander in Verbindung. Niedrige Serotoninwerte lasse gleichzeitig die Stresshormone steigen und umgekehrt. Es ist ein Teufelskreis, sagt Bronisch.
Diese körperlichen Fehlregulationen sind nicht zwangsläufig durch Veranlagung bedingt. Auch äußere Einflüsse, insbesondere traumatische Erfahrungen in der Kindheit wie Gewalt oder sexueller Missbrauch, können die Ursache sein. Denn wie wir auf unsere Umwelt reagieren, ist zu einem wesentlichen Teil auch erlernt. Und deswegen können wir auch umlernen. Hier setzt die Psychotherapie an.
Um die psychoanalytischen Behandlungsmöglichkeiten Selbstmordgefährdeter zu diskutieren, treffen sich vom 30. August bis zweiten September 400 internationale Experten zu einem Kongress in Hamburg. Veranstalter ist das Hamburger Therapiezentrum. Bei uns liegt keiner auf der Couch, tritt Georg Fiedler vom Hamburger Therapiezentrum gängigen Klischees entgegen. Grundlage unseres Behandlungskonzepts ist die vertrauensvolle Beziehung zwischen Patient und Therapeut. Doch anders als bei jeder anderen Beziehung kann der Patient über seine Probleme und Sorgen reden, ohne fürchten zu müssen, für seine Gefühle und Gedanken verurteilt zu werden.
Durch die Gespräche lernen die Patienten, was zu ihrer Suizidneigung geführt hat, welche Verhaltensmuster sie korrigieren müssen. Doch es mit dem Kopf verstanden zu haben, reicht nicht aus. Die Patienten müssen es auch auf der unbewussten Ebene verarbeiten, damit sie bei den nächsten Problemen anders reagieren können und nicht wieder den Selbstmord als Ausweg suchen. Dieser Prozess braucht Zeit. Eine Behandlung dauert bei uns deshalb mindestens zehn Wochen, erläutert Fiedler.
Doch nicht nur Psychologen können etwas tun, um Selbstmorde zu verhindern. Denn sie geschehen nicht aus heiterem Himmel. Etwa 80 Prozent werden zuvor angekündigt. „Dann ist es wichtig, dass Angehörige und Freunde zuhören und die geschilderten Probleme und Sorgen nicht bagatellisieren, sagt Fiedler. Doch auch, wenn der Betroffene nicht direkt über seine Absicht spricht, so sind doch meist Änderungen in seinem Verhalten für andere erkennbar. Sehr häufig ziehen sich diese Menschen auffällig in sich selbst zurück. Man kann die Zeichen erkennen, wenn man sie sehen will.
(erschienen in "Die Welt")