Kalt, kalt, wärmer, noch wärmer... Wer dieses Kinderspiel kennt, kennt auch schon das Funktionsprinzip der "Thermal-Infrarot-Technik" (Thermal-IR). Das neuartige Verfahren könnte ein Schlüssel zur Lösung von Verkehrsproblemen in Ballungsräumen sein.
Frithjof Voss vom Institut für Geographie an der Technischen Universität Berlin hat die Methode zusammen mit einer Tochterfirma von BMW unter Leitung von Bernhard Grüber entwickelt. Das Verfahren ermöglicht es, Verkehrsströme großflächig aus der Luft zu erfassen. "Mit der Thermal-Infrarot-Technik können Objekte durch ihre Wärmeabstrahlung unterschieden werden", erklärt Frithjof Voss. "Die Methode ist an sich nicht neu, nur hat sie offenbar noch niemand dazu eingesetzt, um die Verkehrslage automatisch zu erfassen. Das eigentlich Neue daran ist unsere Software zur Erkennung der Fahrzeuge."
Das Thermal-IR-Messgerät befindet sich an Bord eines Sportflugzeugs. Dieses überfliegt die Stadt in 300 bis 500 Meter Höhe und macht etwa vier Infrarotbilder pro Sekunde. Die Bildausschnitte repräsentieren jeweils Quadrate von 400 Meter Kantenlänge auf dem Boden. Die digitalen Bilder werden sofort an eine Bodenstation gefunkt und von einem Rechner ausgewertet. Der Computer analysiert, wie viele Fahrzeuge in welcher Richtung auf einer Straße unterwegs sind und wie viele von Nebenstraßen in diese Straße abbiegen oder sie verlassen. Da sich die Bilder überlappen, lässt sich sogar die Geschwindigkeit der Autos ermitteln.
Die gesammelten Informationen könnten anschließend nutzerfreundlich in verschiedenen Farben umgesetzt und zum Beispiel auf dem Bildschirm des Navigationssystems im Auto angezeigt werden. Rot heißt dann beispielsweise für den Autofahrer: "Achtung, Stau!" Gelb bedeutet: "Auf dieser Straße wird es bald zu einem Stau kommen". Wie häufig verschiedene Stadtgebiete überflogen werden müssen, hängt von der Tageszeit ab oder von besonderen Ereignissen wie Demonstrationen, Messen oder Straßenfesten.
Zwar gibt es bereits etliche andere Methoden zur Verkehrsüberwachung, doch konnte man damit bislang nur wenig gegen das tägliche Chaos auf den Straßen ausrichten. Weit verbreitet ist zum Beispiel die automatische Zählung durch Detektoren an oder über der Straße. Dieses Verfahren eignet sich vor allem für Autobahnen. Die flächendeckende Installation in Städten wäre zu aufwändig.
Aus dem gleichen Grund kommt auch die breit angelegte Ausstattung der Straßen mit Videokameras in Bodennähe nicht in Frage. Eine Alternative dazu bietet das so genannte Floating-Car-Data-Verfahren. Dabei liefern Erfassungsgeräte, die in Fahrzeugen eingebaut sind, Informationen zum Fahrtverlauf. Daraus wird dann auf die Verkehrslage in ihrem Umfeld geschlossen. Wie aussagekräftig die Daten sind, hängt aber davon ab, wie viele der so ausgestatteten Fahrzeuge gerade unterwegs sind.
Solche Probleme macht die Überwachung per Thermal-Infrarot-Technik nicht. Die eingesetzte Infrarotkamera ist hoch sensibel. "Selbst ein Temperaturunterschied von einem Zehntel Grad Celsius entgeht ihr nicht", sagt Frithjof Voss. Da parkende und fahrende Autos unterschiedliche Temperaturen haben, lassen sie sich mit der Technik leicht unterscheiden. Und wenn Autos und Straße tatsächlich einmal exakt die gleiche Temperatur haben? "Auch kein Problem", sagt Voss. "Die Kanten eines Gegenstandes werden durch ihre unterschiedlichen Reflexionen sichtbar, so dass er sich klar von der Umgebung abgrenzt."
Anders als die Videoüberwachung funktioniert die Infrarot-Technik auch bei Dunkelheit und schlechtem Wetter. Selbst eine Wolkendecke beeinträchtigt das System nicht, da das Flugzeug unterhalb der Wolken fliegen kann. Zum Problem können allerdings belaubte Bäume am Straßenrand werden, die die Strahlung abschirmen. Wenn deshalb auf einer Straße beispielsweise nur die Autos auf der mittleren Fahrbahn erfasst werden, reicht das aber nach Auskunft der Entwickler noch aus, um verlässliche Aussagen über den Verkehrszustand zu treffen. Auf dicht von Bäumen überschatteten Brandenburger Alleen gerät das System allerdings an seine Grenzen.
Bevor die Wissenschaftler die ersten Testflüge über Berlin starten konnten, mussten sie dem Computer zunächst beibringen, Kraftfahrzeuge von anderen Gegenständen zu unterscheiden. Die von ihnen entwickelte Software ist nun in der Lage, Rechtecke mit einer bestimmten Länge und Breite auf dem Infrarotbild als Auto zu identifizieren. Drei Fahrzeugarten kann das Programm nach ihren Abmessungen unterscheiden: Pkw, Transporter sowie Lkw oder Busse.
Die Ergebnisse der Tests und eine Machbarkeitsstudie des Forschungs- und Anwendungsverbundes Verkehrssystemtechnik Berlin (FAV), in der vor allem die Wirtschaftlichkeit der Methode untersucht wurde, haben offenbar das Bundesforschungsministerium überzeugt. Es fördert die weitere Entwicklung der Anti-Stau-Technologie. Daran beteiligen sich mittelständische Berliner Unternehmen und Forschungseinrichtungen.
Sobald das System Marktreife erlangt hat, will man ein Dienstleistungsunternehmen dafür interessieren, die Daten zu erfassen, um sie seinen Kunden zur Verfügung zu stellen. Sowohl private Verkehrsteilnehmer als auch Spediteure oder die Polizei dürften sich für das neue System interessieren. "Künftig könnten auf Basis der Infrarotdaten die Ampelschaltungen der aktuellen Verkehrssituation angepasst werden. Dadurch ließe sich zähflüssiger Verkehr oft vermeiden und Staus könnten verhindert werden", sagt Frithjof Voss. Er selbst wird davon nur indirekt profitieren: Schon seit Jahren fährt er nicht mehr selbst Auto.
(erschienen in der "Berliner Zeitung")